Interview | „Die Gefahr ist real!“ Alexander Rudloff über Tsunami im Mittelmeerraum – und wie man sich vorbereiten kann

Der Dokumentarfilm "La Gran Ola" (Die große Welle), der kürzlich veröffentlicht wurde, rüttelt mit apokalyptischen Szenarien auf. Demnach besteht große Gefahr durch Tsunami im Mittelmeerraum und angrenzenden Gewässern. Wir sprechen mit Alexander Rudloff, der an mehreren Projekten zur Tsunami-Frühwarnung beteiligt war. Ist die Lage wirklich so ernst?

Der Dokumentarfilm "La Gran Ola" (Die große Welle), der kürzlich veröffentlicht wurde, rüttelt mit apokalyptischen Szenarien auf. Demnach besteht große Gefahr durch Tsunami im Mittelmeerraum und angrenzenden Gewässern. Wir sprechen mit Alexander Rudloff, der an mehreren Projekten zur Tsunami-Frühwarnung beteiligt war.

GFZ: Ist die Lage wirklich so ernst?

Alexander Rudloff: Ja, die Lage ist ernst. Die geschilderten Szenarien sind teilweise recht dramatisch – etwa, dass im Falle eines Tsunami einzelne Regionen tagelang von der Versorgung abgeschnitten sein könnten und sich damit die Krisensituation zusätzlich zu den Zerstörungen durch die Welle weiter verschärft. Das ist nicht aus der Luft gegriffen. In dem Film kommen etliche Fachleute zu Wort, die wir am GFZ aus gemeinsamen Forschungsprojekten gut kennen und schätzen. Im Grunde ist die Gefahr auch nicht neu, wir wissen seit vielen Jahren um potenzielle Tsunamiquellen im Mittelmeerraum und angrenzenden Gebieten.

GFZ: Wie können die gefährlichen Flutwellen entstehen?

Rudloff: Tsunami werden überwiegend durch Erdbeben am Meeresgrund ausgelöst, aber auch durch Vulkaneruptionen und Rutschungen an Unterwasserhängen. Für den Mittelmeerraum gilt, dass der Anteil dieser submarinen Hangrutschungen deutlich höher ist als in vergleichbaren Regionen wie dem Indischen Ozean.

Wir schätzen, dass durch Massenbewegungen zwischen einem Viertel und einem Drittel aller Tsunami im Mittelmeer ausgelöst werden, in anderen Meeren liegt der Anteil bei unter zehn Prozent. Oft hängen diese Rutschungen auch mit Vulkanausbrüchen zusammen. Ein Beispiel: Der Kollaps der Insel Santorin infolge eines Vulkanausbruchs 1613 vor Christus hat mutmaßlich eine bis zu zwölf Meter hohe Flutwelle erzeugt. Auch aus der jetzigen Zeit sind kleinere Tsunami infolge von vulkanischer Aktivität bekannt, etwa am Stromboli.

GFZ: Gibt es weitere Beispiele aus der Geschichte?

Rudloff: Das wohl bekannteste Ereignis ist eine Kombination aus Erdbeben und Tsunami am 1. November 1755 in Lissabon. In der Folge wurde die Stadt, damals eine Weltmetropole, nahezu vollständig zerstört, mehrere Zehntausend Menschen starben. Wobei man festhalten muss, dass in den Kirchen wegen des Feiertags Allerheiligen zahlreiche Kerzen brannten und dazu beigetragen haben, dass es umfangreiche Brände gab, die verheerende Schäden angerichtet haben.

Ein anderes Beispiel ist das Erdbeben vom 28. Dezember 1908 in der Straße von Messina zwischen dem italienischen Festland und Sizilien, das einen Tsunami auslöste – beide Ereignisse kosteten Zehntausenden das Leben. Aus der jüngeren Vergangenheit ist ein Tsunami vom 31. Mai 2003 zu nennen, der von einem Erdbeben vor der Küste Algeriens ausgelöst wurde. Nach nur 30 Minuten kamen die Wellen an den Balearen an und haben dort hohe Sachschäden in den Häfen verursacht.

GFZ: Wie kann man sich schützen?

Rudloff: Verhindern lassen sich Tsunami nicht. Doch Frühwarnsysteme können helfen, dass möglichst viele Menschen rechtzeitig informiert werden und in Sicherheit gelangen. Am nördlichen und östlichen Rand des Mittelmeers gibt es solche Frühwarnsysteme, die inzwischen gut funktionieren. An den nordafrikanischen Küsten ist die Instrumentierung grundsätzlich ausbaufähig. Das gilt sowohl für Erdbebenstationen wie auch für GPS-Messgeräte und Küstenpegel.

GFZ: Wie funktioniert ein Tsunami-Frühwarnsystem überhaupt?

Rudloff: Computerprogramme werten kontinuierlich Daten von verschiedensten Sensoren aus, die an möglichst vielen Punkten aufgebaut und in einem Netzwerk miteinander verbunden sind: erstens Seismometer, die Erdbebenwellen erfassen, zweitens GPS-Stationen, die auch minimale Bewegungen des Festlands registrieren und drittens Pegelstationen, die auffällige Änderungen der Wasseroberfläche erkennen, auch wenn sie sich noch nicht zu einem großen Tsunami aufgetürmt hat.

Im Idealfall erkennt eine Software aus diesen Daten frühzeitig einen Tsunami, viele Minuten bevor er auf das Festland trifft. So gewinnt man Zeit, um die Bevölkerung zu warnen, damit sie sich in Sicherheit bringen kann. Beim Aufbau der Frühwarnsysteme im Mittelmeer war übrigens auch das GFZ beratend beteiligt. Wir haben beispielsweise die Software für die Analyse der seismischen Daten eingebracht und unsere Erfahrungen vom Tsunami-Frühwarnsystem GITEWS, das unter Federführung des GFZ im Indischen Ozeans eingerichtet wurde.

GFZ: Was kann neben der Überwachung des Meeres getan werden?

Rudloff: Eine weitere Schutzmaßnahme besteht darin, dass sich die Menschen die Gefährdung bewusst machen und darauf einzustellen. Dazu werden in den einzelnen Ländern entsprechende Katastrophenübungen durchgeführt, wo von der Alarmierung bis zur Evakuierung ein Tsunami-Szenario durchgespielt wird. Israel hat dies vorbildlich im vergangenen Jahr getan, andere Länder könnten da durchaus noch mehr tun.

GFZ: Was muss ich als Tourist beachten?

Rudloff: Auch Urlaubern, die beispielsweise ans Mittelmeer reisen, ist zu empfehlen, sich auf ein solches Ereignis vorzubereiten, beispielsweise mit Hilfe der Tsunami-Merkblätter, die wir am GFZ zusammengestellt haben. Unmittelbar nach der Ankunft am Urlaubsort ist es ratsam, sich mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut zu machen: Sind Evakuierungsrouten und Sammelpunkte für Evakuierungen oder sichere Orte ausgewiesen? Wo befinden sich diese, beziehungsweise wo könnte ich mich im Ernstfall in Sicherheit bringen, zum Beispiel an einem erhöhten Punkt?

Dies sollte man am besten tagsüber bei klarer Sicht und mit klarem Verstand abklären. Denn Naturkatastrophen kommen eigentlich immer im unpassenden Moment. Je besser man dann vorbereitet ist, umso bessere Überlebenschancen hat man.

GFZ: Wäre es denn nicht klüger, gar nicht erst in diese Regionen zu reisen?

Rudloff: Das wäre übertrieben. Denn das individuelle Risiko, von einem Tsunami betroffen zu sein, ist ungleich geringer als etwa bei der Anreise Schaden zu nehmen. Aber die Gefahr eines Tsunami ist für den Mittelmeerraum und angrenzende Meere, selbst für den Atlantik, eben nicht vernachlässigbar, sie ist real. Das muss man wissen.

GFZ: Lange Zeit galt die Frühwarnung im Mittelmeerraum als ausbaufähig. Was ist der aktuelle Stand?

Rudloff: Wir sind inzwischen weiter gekommen. Seit Herbst 2016 gibt es vier existierende „Tsunami Service Provider in der Region: in Griechenland, der Türkei, Italien und Frankreich. In den jeweiligen Ländern gibt es Frühwarnzentren und die Informationen werden auch untereinander ausgetauscht. Nach festgelegten Kriterien, die beispielsweise an eine bestimmte Magnitude, also die Stärke eines Erdbebens und dessen Lage geknüpft sind, werden Alarmierungen ausgelöst. Portugal und Spanien, die in dem Film „La Gran Ola“ adressiert werden, sind noch nicht so weit. Die spanische Mittelmeerküste wird vom französischen Frühwarnsystem überwiegend mit abgedeckt, doch was die Atlantikküste betrifft, gibt es eindeutig noch Verbesserungsbedarf.

GFZ: Wird die Gefahr in Spanien und Portugal unterschätzt?

Rudloff: Nein. Wie gesagt, viele Expertinnen und Experten, die in „La Gran Ola“ zu Wort kommen, sind ausgewiesene Fachleute, die sich in gemeinsamen Forschungsprojekten wie zum Beispiel ASTARTE, das steht für Assessment, STrategy And Risk Reduction for Tsunamis in Europe, stark engagiert haben. Aber Bürokratie ist manchmal schwerfällig. Der Ausbau eines Frühwarnsystems kommt in den Ländern nicht so schnell voran.

Das heißt nicht, dass gar nichts geschieht. So gibt es etwa an der Algarve in der Hafenstadt Lagos in Portugal einen exemplarischen Evakuierungspunkt am Stadtstrand, wo man über eine klare Beschilderung von der Wasserlinie bis zu einem Sammelpunkt geführt wird. Doch gleich nebenan, am großen Nachbarstrand, wo auch viele Touristen sind, fehlt eine solche Beschilderung. Gerade für solche Orte ist es sinnvoll, sich als Urlauber oder Urlauberin vorzubereiten und zu wissen, wie man sich im Fall eines Tsunami verhält.

23.05.2017

Das Interview führte Ralf Nestler

>>Das GFZ-Merkblatt Tsunami mit den wichtigsten Informationen finden Sie hier [PDF]

>> Das umfangreichere GFZ-Infoblatt Tsunami finden Sie hier [PDF] 

>> Mehr Informationen zu ASTARTE

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