Bruchmuster von Erdbeben verbessern die Bewertung seismischer Gefährdung

Die Analyse von 31 Beben im Marmarameer vor Istanbul zeigt bevorzugte Bruchrichtungen, die mit erhöhter Energieausbreitung in Richtung der Megacity einhergehen. Das ist wichtig für Gefährdungskarten.

Zusammenfassung

Eine neue Analyse der Energieausbreitung von Erdbebenwellen liefert wichtige Erkenntnisse für die Bewertung der seismischen Gefährdung und des Risikos in städtischen Gebieten, insbesondere im Hinblick auf die Marmara-Verwerfung in der Nähe von Istanbul im Westen der Türkei. Forschende um Dr. Xiang Cheng und Prof. Patricia Martínez-Garzón vom GFZ Helmholtz-Zentrum für Geoforschung in Potsdam zeigen aufgrund des Zusammenhangs zwischen der Bruchausbreitung und der Ausbreitungsrichtung seismischer Energie, dass bei Beben in der Marmara-Region besonders viel Energie und damit Zerstörungskraft in Richtung Istanbul transportiert wird. Ihre Studie ist im Fachmagazin Geophysical Research Letters erschienen. Analysiert wurden 31 gut erfasste Erdbeben der Stärke ML ≥ 3,5 in dieser Region. Die nun veröffentlichten Ergebnisse helfen, die räumliche Verteilung der Energieausbreitung bei zukünftigen Erdbeben besser zu prognostizieren und damit eine der bevölkerungsreichsten Städte der Welt besser auf mögliche Erdbebenschäden vorzubereiten. 

Hintergrund: Die Bedeutung von Bruchausbreitung für den Transport seismischer Energie bei Erdbeben

Erdbeben sind ein natürliches Phänomen, das vor allem in dicht besiedelten Regionen verheerende Auswirkungen haben kann. Die Kenntnis über die Bruchausbreitung während eines Bebens und die daraus resultierende Richtung der Energieausbreitung sind von entscheidender Bedeutung, um die Risiken von Erdbeben ortsabhängig zu bestimmen und mögliche zerstörerische Auswirkungen durch bessere Vorsorge zu mindern. In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass die von seismischen Wellen transportierte Energie in Bruch-Richtunge stärker und in anderen Richtungen schwächer sein kann. Das hat je nach Ort des Bebens und Lage von anfälliger Infrastruktur erhebliche  Auswirkungen auf das Schadenspotenzial in bewohnten Regionen. 

Analysen im Marmara-Meer anhand kleinerer Beben und Modellierungen

Solche Richtungseffekte untersuchte ein Forschungsteam um Dr. Xiang Cheng und Prof. Patricia Martínez-Garzón vom GFZ Helmholtz-Zentrum für Geoforschung in Potsdam in einer neuen Studie. Sie analysierten 31 gut erfasste Beben der Stärke ML > 3,5 unterhalb des Marmara-Meeres südwestlich vor der Megacity Istanbul. Kleinere Erdbeben treten häufiger auf. Bei entsprechend guter Überwachung durch dichte Seismometernetze können sie daher detailliert untersucht werden. Sie stellen eine Blaupause für „große“ Beben dar, die seltener auftreten, aber größere Auswirkungen haben. 

In seiner Studie setzte das Forschungsteam Techniken zur Modellierung seismischer Wellenformen ein, um aus dem Vergleich der modellierten mit gemessenen Wellen Quellmechanismen und Richtungseffekte von moderaten Erdbeben in der Region Istanbul-Marmara zu berechnen. 

Befund: Stärkere Ausbreitung seismischer Energie in Richtung Istanbul

Die Ergebnisse zeigen, dass die meisten der untersuchten Erdbeben unter dem Marmarameer westlich von Istanbul eine überwiegend ostwärts gerichtete asymmetrische Bruchausbreitung aufweisen. Das bedeutet, dass sich entlang der Verwerfung mehr Energie in Richtung der Metropole ausbreitet. Die gemittelte Richtungsneigung der Brüche liegt bei 85°N (gemessen rechtsweisend gegen Nord) und entspricht damit genau dem Verlauf der Marmara-Hauptverwerfung, aber eben stärker ost- als westwärts. „Diese Richtungstendenz deutet darauf hin, dass der Boden in Istanbul bei solchen seismischen Ereignissen stärker erschüttert wird“, sagt Dr. Xiang Chen, Erstautorin der Studie und während der Untersuchungen Post-Doc-Wissenschaftlerin am GFZ. 

Auswirkungen der Erkenntnisse auf potenzielle stärkere Beben in der Region Istanbul

Diese Informationen sind besonders wichtig, da die Marmara-Hauptverwerfung überfällig für ein Starkbeben ist. Die Sorge über dessen mögliche Auswirkungen wird durch die aktuelle Studie nicht kleiner: „Je nachdem, wo ein zukünftiges großes Erdbeben seinen Ausgangspunkt hat, könnten diese asymmetrischen Bruchmuster zu verstärkten Bodenbewegungen in Richtung des Stadtzentrums von Istanbul führen“, so Prof. Patricia Martínez-Garzón, Arbeitsgruppenleiterin in der GFZ-Sektion „Geomechanik und Wissenschaftliches Bohren“ und korrespondierende Autorin der Studie. 

Berücksichtigung für seismische Gefährdungskarten empfohlen

Bei der Erstellung von seismischen Gefährdungskarten für bestimmte Regionen wird die richtungsabhängige Energieausbreitung bei Erdbeben bisher nicht berücksichtigt. „Wir sehen die Berücksichtigung von diesen sogenannten Direktivitätseffekten in der nächsten Generation von Erdbebengefährdungskarten vor, was entscheidend für bessere Vorsorge im Hinblick auf zukünftige Erdbeben ist“, sagt Prof. Fabrice Cotton, Mitautor der Studie und Leiter der GFZ-Sektion 2.6 „Seismische Gefährdung und Risikodynamik“.

Die Wichtigkeit guter Überwachung durch regionale Messstationen

Die gemessenen Daten für die aktuelle Studie stammen zum Teil vom sogenannten Plattenrand-Observatorium GONAF (Geophysical Observatory at the North Anatolian Fault | Geophysikalisches Observatorium an der Nordanatolischen Verwerfungszone), welches das GFZ Helmholtz-Zentrum für Geowissenschaften in Zusammenarbeit mit der türkischen Katastrophenschutzbehörde (AFAD) seit 2015 in der Marmara-Region betreibt. Mit verschiedenen Arten von Instrumenten, darunter auch Seismometer, die in dort platzierten Bohrungen eingelassen sind, wird die Bebenaktivität in der Region nunmehr hochgenau beobachtet und vermessen. 

„Ein Hauptziel unseres Observatoriums ist es, die kleinen und mittleren Erdbeben in der Marmara-Region besser zu erfassen, um so gut wie möglich vorbereitet zu sein, wenn ein großes Erdbeben in der Nähe von Istanbul auftritt“, fügt Prof. Marco Bohnhoff, Leiter der Abteilung 4.2 „Geomechanik und wissenschaftliches Bohren“ und Leiter des geophysikalischen Observatoriums GONAF, hinzu. 

Folgen der Studie für Stadtplanung und den Schutz der Bevölkerung

Die Ergebnisse dieser Studie unterstreichen die Notwendigkeit für Stadtplaner, politische Entscheidungsträger und Katastrophenschutzkoordinatoren, detailliertere seismische Risikobewertungen in ihre Planungen einzubeziehen. „Die Bewertung potenzieller Erdbebenauswirkungen auf der Grundlage verbesserter wissenschaftlicher Methoden kann die Widerstandsfähigkeit der Infrastruktur und der Gemeinden Istanbuls drastisch erhöhen und damit Schäden und Opferzahlen reduzieren“, betont Patricia Martínez-Garzón.

Diese Forschungsarbeit wirft nicht nur ein Licht auf das seismische Verhalten der Marmara-Hauptverwerfung in der Nähe von Istanbul, sondern dient auch als kritische Erinnerung an die ständige Bedrohung, die Erdbeben für städtische Gebiete weltweit darstellen. Da die Städte aufgrund der steigenden Bevölkerungsdichte und der Herausforderungen an die Infrastruktur immer anfälliger werden, ist das verbesserte Verständnis der Bruchprozesse von Erdbeben für ihren Schutz von entscheidender Bedeutung.


Finanzierung: Diese Studie wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen des ICDP-SPP-Antrags „Earthquake source characterization and directivity effects near Istanbul: Implications for seismic hazard“ und des ERC Starting Grant -101076119 (QUAKEHUNTER) gefördert.

Originalpublikation: 
Chen, X., Martinez‐Garzon, P., Kwiatek, G., Ben‐Zion, Y., Bohnhoff, M., & Cotton, F. (2025). Rupture directivity of moderate earthquakes along the main Marmara fault suggests larger ground motion toward Istanbul. Geophysical Research Letters, 52, e2024GL111460. 
https://doi.org/10.1029/2024GL111460

 

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